Ein Ausflug in die Umgebung von Berlin sollte es am Pfingstwochenende werden, am liebsten an einen der vielen Seen in Brandenburg. Stundenlang hatte ich die Landkarte studiert, in einschlägiger Literatur gelesen und mir diverse Ortschaften herausgeschrieben. Meine Freundin W. warf nur einen kurzen Blick auf meine Liste und meinte dann: „Lass uns nach Bad Saarow an den Scharmützelsee fahren.“ Weder stand dieser Ort auf meiner Liste, noch hatte ich je von ihm gehört, während W. schon vor ein, zwei Jahren dort Urlaub gemacht hatte, wie sie mir sagte. Es sei ein wunderschöner Platz, er würde mir hundertprozentig gefallen. W. ist weitgereist und in allen möglichen Ecken der Welt unterwegs gewesen. Auf ihr Urteil kann man sich verlassen. Ich schaute dennoch bei Theodor Fontane (1819-1898) nach. Schon seit einiger Zeit lese ich mit großem Vergnügen in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Tatsächlich fand ich im Ortsregister auch gleich Saarow. Damals noch ohne den Qualitätszusatz „Bad“, der ihn erst seit 1923 als Kurort auszeichnet. Das Urteil unseres berühmten Schriftstellers und Journalisten war dann aber doch eher niederschmetternd. Als er 1881 in diese Gegend kam, war er zunächst von der Landschaft sehr angetan. Deshalb ließ er seinen Fahrer und Begleiter Moll kurz vor Saarow anhalten, stieg aus und spazierte allein durch den Ort und am See entlang, während Moll zur nächsten Station nach Pieskow vorfahren und dort auf ihn warten sollte. Doch wie Fontane bald feststellen musste, gab es in Saarow scheinbar nicht viel zu sehen. Da entdeckte er ein altes Mütterchen rastend am Wegesrand und fragte es nach Sehenswertem. Das alte Mütterchen schüttelte bedauernd den Kopf und wusste nur von einem neuen Kuhstall zu berichten. Fontane ließ sich schließlich mit einem Boot nach Pieskow, ans andere Ufer des Sees, übersetzen, wo er wieder auf Moll traf und die gemeinsame Fahrt fortsetzte. In seinem Bericht lässt Fontane seinen Begleiter sagen: „In Saarow is nichts, das kenn‘ ich, und hier in Pieskow is gar nichts.“1)
Das hat sich allerdings inzwischen grundlegend geändert.
Der Scharmützelsee ist der größte See Brandenburgs, weshalb er auch „Märkisches Meer“ genannt wird. Er liegt nur etwa siebzig Kilometer südöstlich von Berlin. Kiefernwälder und Heidelandschaft umgeben ihn. Die gesamte Region gehört heute zu den beliebtesten Erholungsgebieten Brandenburgs.
Es ist angenehm warm und sonnig als wir am Pfingstsamstag in Bad Saarow eintreffen. Eine knappe Stunde haben wir gebraucht, um von Schöneberg in Berlin mit dem Auto hierher zu gelangen. Wir schlendern durch gepflegte Parkanlagen in Richtung See.
Was mir sofort auffällt, ist die gute Luft. Sie ist mild, fast süß. W. steht neben mir und schnuppert. „Spürst du auch die gute Luft?“, fragt sie fast triumphierend. „Es war die richtige Entscheidung, dass wir hierher gekommen sind.“ W. ist stark erkältet, ihre Stimme unglaublich heiser. Während der ganzen Fahrt im Auto hierher hatte sie eine Maske getragen, um mich nicht anzustecken. Besorgt hatte ich sie gefragt, ob sie einen Corona-Schnelltest gemacht hätte. Das hatte sie, mit negativem Ergebnis, und geimpft ist sie auch.
Fontane hatte von einem wundervollen Weg geschrieben, der am Ufer des Sees entlangführe. Ein tiefer Ernst läge über dem See, der Einsamkeit und Stille zeige. Ja, so in etwa empfinde ich die Stimmung auch. Es ist eine wohltuende, friedliche Stille. „Oft hielt ich an, um zu horchen, aber die Stille blieb und ich hörte nichts als den Windzug in den Binsen und das leise Klatschen der Wellen.“ 2)
Wir folgen dem Weg am Ufer entlang, nicht weit, da schlägt uns munteres Quaken entgegen: Paarungszeit für Frösche und Kröten. Ein Steg führt über das Wasser und es kostet uns einige Zeit bis wir die gut getarnten Tiere sehen.
Historisch gibt es über Bad Saarow nicht viel zu berichten. Einst lagen hier die drei Gutsdörfer Saarow, Pieskow und Silberberg, die einer adligen Familie gehörten und bis zu deren Aussterben 1860 nur eine Bevölkerung von 225 Seelen zählten. 1905 erwarb die Berliner Landbank AG das wirtschaftlich unterentwickelte Gebiet und ließ dort in den folgenden Jahren eine Landhaus-Kolonie errichten. Den Bebauungsplan lieferte der bekannte Berliner Gartenarchitekt Ludwig Lesser (1869-1957). Nach ihm ist ein Teil der Uferpromenade benannt. Lesser wirkte in Berlin auch an dem Projekt „Gartenstadt Falkenberg“ des Architekten Bruno Taut mit, das heute zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. 3)
Der Bau der Landhaus-Kolonie war der Startschuss zu einer rasanten Wandlung Saarows in einen mondänen Kurort. Schon seit etwa 1900 wusste man um die Heilkraft der örtlichen Thermalquellen und des mineralhaltigen Schlamms, den man zum Kurieren von Hauterkrankungen nutzen konnte. 1911 wurden eine Seebadeanstalt und ein Sanatorium eröffnet, 1914 ein Moorbad. Eine regelmäßige Schifffahrtslinie lief mehrere Stationen am Scharmützelsee an, der Anschluss an das Schienennetz folgte auch bald, so dass Saarow von Berlin aus bequem zu erreichen war. In den 1920er Jahren traf sich hier die Prominenz aus der Berliner Kultur- und Filmszene. Immer mehr wohlhabende Berliner entdeckten den stillen Charme des Scharmützelsees und ließen sich an seinem Ufer Landhäuser und Villen bauen.
Selbst in die überregionalen Schlagzeilen schaffte es die Region, als im August 1912 der österreichische Physiker Victor Hess mit einem Ballon von Assig in Böhmen nach Brandenburg flog und in Bad Saarow-Pieskow landete. Während dieses Fluges erbrachte er den Nachweis von kosmischer Strahlung, wofür er 1936 den Nobelpreis für Physik erhielt.
Segelregatten, Bootspartien, internationale Schach- und Golfturniere – in Bad Saarow wusste man sich zu vergnügen. Doch nach den Goldenen Zwanzigerjahren begann mit dem Aufstieg der Nazis der Abstieg von Bad Saarow. Auch hier wurden etliche Häuser und Besitztümer der jüdischen Mitbürger während der Novemberpogrome von 1938 zerstört, und nachdem die ehemaligen Eigentümer vertrieben, verschleppt oder umgebracht worden waren, bemächtigten sich die Nazi-Größen der Hinterlassenschaften. Während der DDR-Zeit wurden große Teile Saarows für militärische Zwecke beansprucht und für eine zivile Nutzung nicht mehr zugelassen. Mit der Wende knüpfte man wieder an alte Traditionen an und versuchte Bad Saarow zu neuem Leben zu erwecken. Tatsächlich bilden Kuren, Wellness, Erholung und Freizeitgestaltung heute wieder einen wichtigen Wirtschaftszweig, der in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird, denn den Brandenburgern wird insgesamt ein unerschütterliches Badebedürfnis nachgesagt. Wohl kein anderes Bundesland verfügt über so viele Kur-, Wellness- und Spaßbäder. Kein Wunder, denn die Region wird auch das Land der dreitausend Seen genannt. Brandenburg ist das an Binnengewässern reichste Bundesland. Die Leidenschaft fürs Baden und Kuren teilte schon der Große Kurfürst (1620-1688). In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ließ er im etwa sechzig Kilometer nordöstlich von Berlin gelegenen Bad Freienwalde einen ersten Kurbetrieb anlegen. Es ist der älteste Kurort Brandenburgs. Den Vogel schießt heute die Bäderlandschaft „Tropical Islands“ ab, gute siebzig Kilometer südlich von Berlin: eine Tropenlandschaft mit künstlichem Regenwald in einer riesigen ehemaligen Luftschiffhalle.
Immer wieder bleiben wir stehen, schauen auf neu entstandene Kur- und Wellnesshotels, auf Restaurants, Cafés, Marinas mit vielen Booten.
An einer Anlegestelle stehen zwei Reisegruppen mit älteren Herrschaften Schlange und warten geduldig auf das Eintreffen des nächsten Ausflugdampfers. Wir entdecken parallel zum Uferweg, versteckt hinter Grünanlagen, eine Straße mit liebevoll restaurierten und auch neuen Villen.
Mit ein wenig Neid schauen wir auf den Bau von modernen Eigentumswohnungen. Hier ein kleines Wochenend- oder Feriendomizil zu besitzen, das wäre was!
Nach langer Wanderung kehren wir in einem Restaurant ein, sitzen im Garten mit Blick auf den See. Nur ein paar Tische weiter sitzt eine Hochzeitsgesellschaft an einer festlich geschmückten langen Tafel, rennen Kinder fröhlich herum und sausen begeistert die kleine Anhöhe zum See hinunter. Eine heitere Gelassenheit liegt über dem Ort. Bad Saarow scheint mir auf angenehme Weise aus der Zeit gefallen. Als tickten die Uhren hier anders.
Seit unserer Ankunft sind mehrere Stunden vergangen. Plötzlich fällt mir auf, dass die Stimme meiner Freundin an Heiserkeit verloren hat. Es geht ihr wirklich wesentlich besser. Die gute Luft von Bad Saarow hat Wirkung gezeigt. Vielleicht sollte man Bad Saarow nicht nur als Sole- und Moorheilbad, sondern auch als Luftkurort bezeichnen.
Und dann begegnen wir doch tatsächlich noch unserem lieben Theodor Fontane. Wir stehen im Fontanepark. Sein eher wenig schmeichelhaftes Urteil dankten ihm die Saarower, indem sie ihm zu Ehren direkt am Ufer des Scharmützelsee einen Park mit einem Literaturpfad anlegten. Sechzehn Tafeln wurden in den Boden eingelassen, versehen mit teils amüsanten Sprüchen und Lebensweisheiten Fontanes.
Wie recht er hatte!
- Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, München 2006, Bd. 2, S. 483
- ebd., S. 478
- Siehe Artikel auf dieser Website: Bruno Taut (1880-1938) – ein Wegbereiter des Neuen Bauens