Eine Freundin wollte mir zwei interessante Wohnsiedlungen im Südosten Berlins zeigen. Sie wohnt allerdings im Nordwesten und das bedeutete, dass wir entweder quer durch die Stadt oder einen Umweg über den Stadtring fuhren. Knapp dreißig Kilometer nur wegen zweier Wohnsiedlungen aus dem frühen 20. Jahrhundert? Ich meldete Zweifel an und fragte, ob sich das wirklich lohne. Davon war sie felsenfest überzeugt, zumal es sich um Beispiele der Berliner Moderne handelte, die sogar zum UNESCO Weltkulturerbe zählten.
Sie tippte die Adresse in den Navigator: Gartenstadt Falkenberg, Bezirk Treptow-Köpenick. Wir erreichten das Ziel über den Stadtring schneller als von mir erwartet. Auch ein Parkplatz war bald gefunden. Und dann folgte die große Überraschung: Reihenhäuser und Wohnblocks in knallbunten Farben, rot, orange, gelb, grün, blau, sogar lila und schwarz, umgeben von Gärten und Grünanlagen, erbaut vor rund einhundert Jahren.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Sprachlos blieb ich stehen und sah mich um. „Tuschkasten-Siedlung“ würde diese Anlage auch genannt werden, wusste meine Freundin zu berichten, weil sich der Architekt, Bruno Taut, bei der Planung scheinbar eines Tuschkastens bedient hätte.
Bruno Taut?, fragte ich verwundert und erinnerte mich eines Artikels, den ich erst kürzlich in einem Buch über die Architektur der Moderne gelesen hatte. Darin war von Bruno Tauts Aufenthalt in Japan die Rede gewesen und seinen bewundernden Kommentaren zur klassischen japanischen Architektur. Ein deutscher Architekt, der sich von japanischer Kultur beeindrucken lässt? Das hatte ich interessant gefunden. Und nun stand ich also völlig unerwartet vor einem seiner Werke, einer Wohnsiedlung in Berlin, entstanden zwischen 1913 und 1916.
Die zweite Siedlung, die wir anschließend im nicht weit entfernten Ortsteil Britz besuchten, war eine noch größere Überraschung. Dort war auf dem Gelände eines ehemaligen Rittergutes zwischen 1925 und 1930 eine Großsiedlung mit knapp zweitausend Wohnungen gebaut worden: die Hufeisen-Siedlung, entworfen ebenfalls von Bruno Taut. Um einen eiszeitlichen, sumpfigen Teich hatte er einen runden Gebäudekomplex errichten lassen. Die einzelnen Wohneinheiten fügen sich aneinander und sind zur Mitte hin mit Nutzgärten versehen. Nur an einer Stelle öffnet sich das riesige Gebäuderund und bildet mit den Anbauten die Form eines Hufeisens, nach dem die Siedlung benannt wurde.
Außerhalb dieses Hufeisens verläuft eine Straße, von der zweigeschossige Reihenhauszeilen strahlenförmig abzweigen, die wiederum von dreigeschossigen Wohnblocks gerahmt werden. Kontrastreiche Fassadenanstriche geben ihnen ein lebendiges individuelles Aussehen und der gesamten Siedlung ein übergreifendes Konzept.
Expressive Farben als kostengünstiges Gestaltungsmittel – das muss vor hundert Jahren in der Welt des Bauens revolutionär gewesen sein. Wer also war dieser Bruno Taut, der so Ungewöhnliches geschaffen hat?
1880 im ostpreußischen Königsberg geboren, absolvierte Taut nach dem Abitur ein Studium an einer Baugewerkschule mit einhergehender Maurerlehre. Danach folgte die Mitarbeit bei mehreren erfolgreichen Architekten in Hamburg, Berlin und Stuttgart. 1909 machte er sich als Architekt in Berlin selbstständig, nahm Partner auf und war in den folgenden Jahren nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen deutschen Städten tätig, so etwa als Stadtbaurat in Magdeburg. Studien- und Vortragsreisen führten ihn nach England, Holland, in die Türkei und nach Moskau.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Industrialisierung in verschiedenen europäischen Großstädten zu einem dramatischen Wohnraummangel geführt. Im deutschen Kaiserreich entwickelte sich Berlin mit fast 3,9 Millionen Einwohnern zum größten industriellen Ballungsraum. Das rasante Wachstum ging mit ausufernden Spekulationen auf dem privatwirtschaftlichen Wohnungsmarkt einher und einer drastischen Verdichtung der Wohnquartiere. Viele Menschen hausten in völlig überbelegten, dunklen und schlecht belüfteten Wohnungen. Mietskasernen wurden solche Behausungen genannt, die aus mehrgliedrigen Wohnkomplexen bestanden, mit Vorderhaus, Seitenflügeln und Hinterhäusern. Die Innenhöfe waren meist eng und dunkel und nur so groß, dass man im Fall eines Brandes eine Feuerspritze darin wenden konnte. Zeitweise galt Berlin als die größte Mietskasernenstadt der Welt. Mediziner und Hygieniker schlugen Alarm, denn es zeigte sich, dass menschenunwürdige Wohn- und Lebensbedingungen zu Krankheiten und explosiven gesellschaftlichen Spannungen führten. Kluge Köpfe entwickelten Lösungsvorschläge. Einer von ihnen war Sir Ebenezer Howard, ein britischer Stadtplaner, der als Erfinder der „Gartenstadt“ gilt. Naturverbundenes Wohnen in durchgrünten Gartenstädten, die zwar in Vororten lagen, aber mit der Kernstadt eng verbunden waren. Sir Howards Idee fand schnell viele Anhänger und führte – vor allem in den USA – zu einer weit verbreiteten Gartenstadtbewegung. Auch in Deutschland zündete seine Idee, wurde allerdings meist bei Projekten für gehobenes Wohnen umgesetzt. Der sozial engagierte Bruno Taut gehörte zu den ersten Architekten, die für Arbeiter und Angestellte mit niedrigem Einkommen bezahlbare familiengerechte Wohnungen entwarf, ausgestattet mit Bad und Küche, viel Licht und gesunder Luft, mit Nutzgärten und Grünanlagen.
Hierzu kombinierte er großflächigen Siedlungsbau mit dem Konzept der Gartenstadt. Die Reduzierung auf einige wenige standardisierte Grundrisstypen ermöglichte kostengünstiges Bauen, was jedoch zu keiner Monotonie führte, denn statt auf starre Geometrie setzte Taut auf spielerische Verschiebungen im Bebauungsplan, auf vor- und rückversetzte Häusergruppen, die das Straßenbild belebten, und auf expressive Farbanstriche, die für Individualität sorgten. Gerade die von ihm gewählten kräftigen Farben im Außen- wie im Innenbereich sorgten anfangs für viel Kritik, wurden dann aber zu seinem Markenzeichen und von einigen anderen Architekten nachgeahmt. „Wir müssen die Farbe als absolut gleichberechtigt neben der Form anerkennen“, heißt es in einer seiner vielen Veröffentlichungen zum Siedlungsbau. Die Siedlung Falkenberg ist ein Beispiel dafür, allerdings ist sie kleiner geraten als ursprünglich geplant. Sie sollte eigentlich 1500 Wohnungen umfassen. Wegen fehlender finanzieller Mittel in Folge des Ersten Weltkrieges konnten nur 128 Wohneinheiten gebaut werden.
Mit Beginn der Weimarer Republik setzte jedoch ein regelrechter Bauboom ein. Endlich sollte der eklatanten Wohnungsnot Einhalt geboten werden. Als Antwort auf die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse in den Mietskasernen der Kaiserzeit wurde ein radikaler Strukturwandel vollzogen und eine neue Siedlungsform entwickelt: der soziale Wohnungsbau. Gewerkschaftliche, genossenschaftliche und städtische Baugesellschaften wurden zu Trägern großer Siedlungsbauprojekte. Zwischen 1919 und 1933 entstanden in Deutschland etwa 2,8 Millionen neue Wohnungen. Die Weimarer Republik wird deshalb auch die „bauende Republik“ genannt.
Bruno Taut entwickelte allein in Berlin als Chefarchitekt der GEHAG (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-AG) über 10.000 Wohneinheiten in Siedlungen, die noch heute als mustergültig gelten. Im Jahre 2008 wurden insgesamt sechs Wohnanlagen als „Siedlungen der Berliner Moderne“ in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Vier davon sind nach Entwürfen von Bruno Taut entstanden. Allen sechs Siedlungen ist gemein, dass sie entscheidend zur Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse beigetrugen und zu einem Vorbild für den modernen Wohnungsbau im 20. Jahrhundert wurden. Sie stehen auch für die soziale Aufbruchstimmung der 1920er Jahre und für die Hoffnung auf eine neue solidarische Gesellschaft.
Bruno Taut gehörte in jenen Jahren zu den meist beschäftigen Architekten Deutschlands, war ein im In- und Ausland geschätzter Experte für Wohnungs- und Siedlungsbau und darüber hinaus ein bedeutender Theoretiker mit Verpflichtungen in Forschung und Lehre. Dann kam das Jahr 1933 und setzte eine Zäsur, denn in Nazi-Deutschland war kein Platz mehr für ihn. Die Nationalsozialisten brandmarkten seine kontrastreiche Farbgestaltung als “entartete Kunst” und erklärten ihn zum Kulturbolschewisten. Er hatte sich zwischen 1931 und 1933 in Moskau an der Planung von Neubauprojekten beteiligt und zählte außerdem NSDAP-Kritiker zu seinen Freunden.
Am 1. März 1933 erfuhr er, dass sein Name auf einer schwarzen Liste stand. Die Nachricht kam vom Chef der Heeresleitung, General Kurt von Hammerstein-Equord. Eine seiner Töchter war Mitschülerin von Tauts Tochter gewesen. Taut wurde dringend geraten, Berlin sofort zu verlassen, was er auch am selben Tag machte. Seine Flucht führte ihn zunächst in die Schweiz und dann nach Japan, wo er drei Jahre blieb. 1936 folgte er einem Ruf nach Istanbul. Dort übernahm er die Leitung der Architekturabteilung der Akademie der Künste und des Architekturbüros des türkischen Kulturministeriums. Noch zwei Jahre intensiver Arbeit lagen vor ihm, unter anderem beinhaltete sie die Planung von mehreren Schul- und Universitätsgebäuden, einem neuen Opernhaus und einem Parlamentsgebäude. Noch im Juni 1938 fand in Istanbul eine retrospektive Ausstellung seines Gesamtwerkes statt. Doch schließlich, viel zu früh, im Alter von nur 58 Jahren, erlag er am 24. Dezember 1938 einem Herzversagen. Er wurde auf dem Ehrenfriedhof des türkischen Staates in Istanbul bestattet.
Zweifellos war Bruno Taut einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Fast zweihundert Bauprojekte hat er ihm Laufe seines Lebens entwickelt und darüber hinaus noch ein theoretisches Werk von etwa vierhundert Publikationen geschaffen. Ähnlich zahlreich sind die Schriften und Beiträge, die von der Fachwelt über ihn und sein Werk geschrieben wurden.
Als ich an jenem Tag in den Südosten Berlins aufbrach, ahnte ich von all dem nichts. Nur ein kurzer Besuch und schon schien sich eine ganz neue Welt aufzutun. Ich wollte mehr über Bruno Taut und sein Werk erfahren und wurde in der Universitätsbibliothek fündig. Besonders hervorheben möchte ich hier für alle Interessierten den Titel: Winfried Nerdingen u.a. (Hrsg.) Bruno Taut 1880-1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, Stuttgart 2001.
Und dann gibt es da ja noch Bruno Taut und Japan. Aber das ist eine andere Geschichte.
2 comments
Deine Kulturinteressen sind so wundervoll
Aufbereitet, dass ich gar nicht aufhören kann
Zu lesen, selbst wenn ich nicht Berlin zu meinem
Wohnsitz zählen kann. Diese Notizen haben für mich
Universellen Charakter und eine große Spontanität
In der Begegnung, was ich sehr mag. Danke,
Petra.
Liebe Petra, mach immer so weiter! Alle Deine Beiträge sind spannend und wir werden klüger.