Schon im letzten Jahr bin ich zur Baumblüte ins südwestlich von Hamburg gelegene Alte Land gefahren. Doch kam ich zu spät. Mitte Mai war die Kirschblüte schon vorüber und die Apfelblüte fast am Ende. Dieses Jahr ist der Zeitpunkt perfekt: letzte Aprilwoche, blauer Himmel und Sonnenschein. Laut Blütenbarometer im Internet stehen die Kirschbäume in Voll- und die Apfelbäume in Mittelblüte. Auch habe ich diesmal mehr Zeit mitgebracht, um mir die Altländer Bauernhäuser anzusehen, an denen ich im letzten Jahr nur eilig vorbeigefahren bin. Ich gebe zunächst „Neuenfelde“ in den Navigator ein, denn dort stehen schöne Prunkpforten und die ersten reich verzierten Fachwerkhäuser, jedenfalls wenn man aus Richtung Hamburg kommt.
Mit den Prunkpforten haben wohlhabende Altländer seit dem späten 17. Jahrhundert ihre Hofzufahrten geschmückt. Sie sind aus Holz gezimmert und meist in Weiß gehalten, mit farbenprächtigen Schnitzereien und Ornamenten versehen, mit Blumen und Trauben als Symbol der Fruchtbarkeit, stilisierten Löwenköpfen zum Schutz für Bewohner und Ernte, mit Sinnsprüchen und dem Namen des Hofbesitzers.
Das Besondere an den alten reetgedeckten Fachwerkhäusern ist das Mauerwerk. Nach alter Tradition haben die Maurer verschiedenste Muster in die Fassaden eingearbeitet und sie auf diese Weise individuell gestaltet.
Die Gutshäuser waren unterteilt in einen großen Wirtschaftsbereich mit Diele, Ställen und Lagerböden sowie in einen kleineren Wohntrakt. Auf der straßenseitigen Giebelwand befindet sich die mit Schnitzwerk dekorierte Eingangstür, die aber nur zu seltenen Anlässen geöffnet wurde, etwa zu Hochzeiten oder Trauerfeiern. Auch hatte diese Tür keinen außenseitigen Türgriff, denn sie war vor allem eine Nottür, die von innen geöffnet wurde.
Die eigentliche Eingangstür lag an der Längsseite des Hauses. Im Falle eines Feuers, wenn das Reetdach brannte und zu beiden Seiten herunterrutschte, konnte der Fluchtweg durch diese Tür blockiert sein. Eine ähnliche Gefahr drohte nicht bei der Nottür an der Giebelseite. Deshalb befand sich hinter dieser im Inneren des Hauses ein sogenanntes Kofferzimmer, in dem alle wertvollen und wichtigen Sachen lagerten, die bei Gefahr schnell ins Freie und in Sicherheit gebracht werden konnten.
Über schmale Wege geht die Fahrt vorbei an Obstplantagen. Ich halte an und streife zwischen Baumreihen entlang. Ein Meer weißer Kirschblüten empfängt mich. Auf dem Boden blüht der Löwenzahn. Gleich daneben beginnt auf einem weiten Feld die Apfelblüte.
Welch ein großartiger Landstrich! Das Alte Land – wieso heißt es eigentlich so? Darüber sind sich die Experten nicht einig. Gibt es auch ein Neues Land?
Das Wasser ist das Schicksal der Menschen in diesem Gebiet. Vor mehreren Tausend Jahren, als die Elbe immer wieder über ihre Ufer trat, setzten sich bei den Überschwemmungen mitgeführte Sedimente und Sande im Uferbereich ab. Dadurch bildete sich im Laufe der Jahrtausende ein Streifen von ein bis drei Kilometern Breite und bis zu zwei Metern Höhe, Hochland genannt. Hier ließen sich schon in vorchristlicher Zeit Siedler nieder, die von Fischfang, Landwirtschaft und Schifffahrt lebten. Damals, so heißt es, sprach man von dem „alten“, dem schon immer dagewesenen Land. Das tiefer gelegene, oft überflutete Hinterland, Sietland genannt, war unwegsames Sumpfgebiet und ungeeignet für eine Besiedlung und wirtschaftliche Nutzung. Erst im 12. Jahrhundert lockte man mit günstigen Konditionen erfahrene holländische Siedler hierher, die mit solchen Bedingungen umzugehen wussten. Unter ihrer Anleitung wurde das Sumpfland systematisch entwässert und nutzbar gemacht. Unzählige Entwässerungsgräben und Deiche mussten in mühseliger Handarbeit angelegt werden. Auf diese Weise wandelte sich das sumpfige Hinterland zu einer einzigartigen fruchtbaren Kulturlandschaft, die sich heute über 32 Kilometer von Hamburg bis Stade mit einer Fläche von etwa 170 Quadratkilometern erstreckt. Das von den Holländern geschaffene Neue Land wurde bald nach ihnen, den Ollandern, benannt. So jedenfalls lautet eine andere Erklärung zur Herkunft des Namens. Der Name „Oldenlander“, Altländer, tauchte erstmals in alten Dokumenten von 1267 auf.
Die Pflege der Deiche ist der Garant für ein Überleben. Ein alter Spruch lautet: Kein Deich, kein Land, kein Leben. Nur gemeinsam ließ sich diese Aufgabe bewältigen und schweißte deshalb die Menschen zusammen. Auch heute fordern Deiche, Entwässerungsanlagen, Pump- und Sperrwerke größte Aufmerksamkeit, nur wird die früher per Hand ausgeführte Arbeit inzwischen durch schweres technisches Gerät geleistet. Und dennoch, trotz aller Bemühungen gab es immer wieder verheerende Sturmfluten, die großflächige Verwüstungen anrichteten.
Das Alte Land steht heute vor allem für den Obstanbau. Es ist das größte geschlossene Obstanbaugebiet Deutschlands und eines der größten Europas. Die Spezialisierung auf den Obstanbau ist jedoch erst jüngeren Datums. Jahrhundertelang betrieb man im Alten Land eine traditionelle Landwirtschaft, das heißt Ackerbau und Viehhaltung. Weizen, Hafer und Gerste wurden angebaut, ebenso Flachs, Hanf und Lein. Es wurden Rinder gehalten und Pferde gezüchtet. Dank der fruchtbaren, nährstoffreichen Böden und des milden maritimen Klimas im Mündungsdelta der Elbe gedieh die Landwirtschaft und wurde zur Grundlage des Wohlstands im Alten Land. Erst aus dem 14. Jahrhundert gibt es schriftliche Hinweise auf Obstgärten, deren Ernte nicht für den Eigenbedarf genutzt, sondern mit anderen Agrarprodukten auf Hamburger Märkten verkauft wurde. Um 1660 soll die Obstanbaufläche etwa 200 Hektar betragen haben. Im Zuge des ausgehenden 19. Jahrhunderts weitete sich der Obstanbau aus. Die Verbesserung der Verkehrswege mit einhergehender Erschließung neuer Absatzmärkte, aber auch die wiederkehrenden schweren Sturmfluten leiteten ein Umdenken ein zugunsten der Spezialisierung auf den Obstanbau. Nach den horrenden Verlusten an Ackerland und Viehbestand durch die verheerende Flut von 1962 gab man Ackerbau und Viehhaltung schließlich weitgehend auf. Heute nimmt der Obstanbau eine Fläche von etwa 9.000 Hektar ein. Bevorzugt wird der Apfelanbau, auch wegen der besseren Möglichkeiten von Lagerhaltung und Vertrieb. Der Anbau von Kirschen macht nur etwa 6 Prozent aus, der von Birnen 3 Prozent. Die Spezialisierung auf Obstanbau hat das landschaftliche Erscheinungsbild in vielerlei Hinsicht verändert. Beispielsweise beim Apfelanbau: Einst prägten hochstämmige Apfelbäume das Bild, heute nutzt man sogenannte Spindelbäume, die mit etwa 2,5 bis 3 Metern Höhe wesentlich niedriger sind als die alten Sorten und deshalb auch weniger Platz beanspruchen. Allerdings müssen sie durch Holzstangen und Drahtrahmen gestützt werden. Die Mühe lohnt sich. Während auf einem Hektar Land früher nur etwa 300 Bäume Platz fanden, sind es heute um die 3000. Dementsprechend entwickelten sich auch die Erträge.
Das Herz des Alten Landes bildet die kleine Stadt Jork mit etwa 12.000 Einwohnern. Ihre Anlage verrät, dass es sich ursprünglich um eine dörfliche Siedlung aus der Zeit der holländischen Kolonisten handelt. Im Ortskern befindet sich der Gräfenhof, früher Sitz des obersten Verwaltungsbeamten, heute Rathaus. Es besteht aus einem Fachhallenhaus von 1637 und aus dem angesetzten Querbau von 1651.
Als der damalige Gräfe (Hochdeutsch: Grefe), Matthias von Haren, den Gräfenhof übernahm, ließ er das Anwesen zu einem repräsentativen Herrenhaus umbauen. Der Querbau ist vom Fleet aus direkt zu erreichen.
Handwerker und Händler siedelten sich an. Heute sind in den sanierten Häusern meist Läden und Dienstleistungsbetriebe untergebracht.
Nur wenige Schritte weiter südlich steht die St.-Matthias-Kirche. Urkundlich erwähnt wurde sie erstmals 1221. Der heutige Bau stammt aus dem 17. Jahrhundert und ist in seiner Gestaltung typisch für die Kirchen dieses Landstriches. Was ich nicht wusste ist, dass das Alte Land auch ein Orgelland ist mit einer ungewöhnlich hohen Orgeldichte. Schon im 16. Jahrhundert waren die Altländer begeisterte Freunde der Orgelmusik und Arp Schnitger (1648-1719), der aus einem Ort an der nahegelegenen Unterweser stammte, einer der berühmtesten Orgelbauer seiner Zeit. Nicht nur im Alten Land war er ein vielbeschäftigter Mann. Sein Wirkungsbereich erstreckte sich über den gesamten nordeuropäischen Raum. Die Orgel in der St.-Matthias-Kirche stammt ursprünglich aus seiner Werkstatt. Nur noch einige Teile sind im Original erhalten.
Der Altar und die Kanzel in dieser Kirche wurden von Claes Schuback gestiftet. Die Schubacks besaßen in Jork einen Gutshof und gehörten zu den führenden Familien. Claes Enkel Nicolaus wurde 1715 zur Schulausbildung nach Hamburg geschickt. Nach einem Studium in Jena und Gießen ließ er sich als Anwalt in Hamburg nieder, wurde später zum Senator und schließlich zum langjährigen Bürgermeister (1754-1782) der Hansestadt gewählt. Und nun nähern wir uns einer ergreifenden Liebesgeschichte. Dass Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und Eva König in Jork geheiratet haben, hatte ich schon gehört. Aber wieso gerade in Jork, fragte ich mich, wo Lessing doch in Wolfenbüttel lebte und Eva König in Hamburg? Die Schubacks hatten damit zu tun.
Eva Catharina König (1736-1778) war eine geborene Hahn und Kaufmannstochter aus Heidelberg. 1756 heiratete sie den angesehenen Seiden- und Tapetenfabrikanten Engelbert König aus Hamburg. Zu ihrem Freundeskreis gehörte die Familie des überaus erfolgreichen Kaufmanns Johannes Schuback, Enkel des oben genannten Hamburger Bürgermeisters Nicolaus Schuback aus Jork. 1767 wurde Lessing am Hamburger Nationaltheater tätig. Schon damals war er ein bekannter Dichter und erfolgreicher Dramatiker. Der kunstsinnige Engelbert König freundete sich mit ihm an, machte ihn sogar zum Taufpaten seines jüngsten Sohnes. 1769 befand sich Engelbert König auf Geschäftsreise, als er in Venedig völlig unerwartet starb. Fortan kümmerten sich die Schubacks und Lessing um Eva und ihre vier Kinder und unterstützten sie mit Rat und Tat in der Regelung ihrer Angelegenheiten. Im selben Jahr schloss das Hamburger Nationaltheater wegen Geldmangel. Lessing fand eine neue Anstellung als Archivar in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Auch Eva König verließ bald für längere Zeit Hamburg. Um sich und ihre vier Kinder finanziell abzusichern, entschloss sie sich zum Verkauf der Manufakturen ihres Mannes. Diese befanden sich jedoch in Wien. Sie waren nach dem plötzlichen Tod Königs in Schieflage geraten. Kredite waren noch nicht abbezahlt. Die Geschäfte liefen schlecht. Es drohte der Bankrott.
Eva König war damals 33 Jahre alt, Lessing über 40 und noch unverheiratet. Ein halbes Jahr nach dem Tod des Engelbert König begannen die beiden einen Briefverkehr, der erhalten blieb und ein herausragendes Zeitdokument ist. Darin zeigt sich, dass die gebildete und tolerante Eva König vom Intellekt her Lessing durchaus ebenbürtig war. Ungewöhnlich freimütig berichteten beide über ihre Seelenlagen, kamen sich dabei nahe und lernten sich kennen, wie in dieser Zeit kaum ein anderes Paar vor der Hochzeit. Der berühmte Gelehrte konnte unterhaltsam und überschwänglich sein, aber auch tief frustriert. Er liebte die Bücher und das Lotteriespiel, mit dem er seine ständigen Geldnöte zu regeln versuchte. Die tüchtige Eva, die ihre Kinder in Pension gab, brachte in Wien die Betriebe ihres verstorbenen Mannes wieder zum Laufen und konnte sie nach sechs Jahren endlich gewinnbringend verkaufen. Genauso lange, sechs Jahre, währte auch der Briefverkehr, der in dieser Zeit etliche Höhen und Tiefen durchlief. Die gemeinsamen Treffen lassen sich fast an einer Hand abzählen. Mehrmals drohte die Beziehung zu scheitern, nicht etwa aufgrund der weiten Distanz ihrer jeweiligen Aufenthaltsorte, sondern weil sich andere um die Aufmerksamkeit der beiden attraktiven Persönlichkeiten bemühten. Im Jahre 1771 hatten sie sich verlobt, erst 1776 fand die Hochzeit statt. Eva dachte wahrscheinlich eher an eine Hochzeit im Kreise ihrer Familie und Freunde in Hamburg. Der berühmte Lessing zog jedoch eine Zeremonie im kleinsten Kreis vor. Daraufhin bot Johannes Schubacks Frau Anna ihrer Freundin Eva den Sommersitz der Familie Schuback in Jork als Hochzeitshaus an. Genauso geschah es dann auch. Sie heirateten am 8. Oktober 1776 in Jork. Kurz darauf kehrte Gotthold Ephraim Lessing mit Frau und Kindern nach Wolfenbüttel zurück. Die folgenden Monate sollten die glücklichsten in seinem Leben werden. Keine 15 Monate später, am Weihnachtsabend, gebar Eva den gemeinsamen Sohn Traugott, der schon am Tag darauf starb. Eva folgte ihrem Kind nach zehn Tagen durch Kindbettfieber. Der verzweifelte Lessing überlebte seine Frau nur um drei Jahre.
Noch heute erinnert man sich in Jork an den wohl berühmtesten Besucher der Stadt. Auf einer weißen Hochzeitsbank, wie sie viel an den Kirchen im Alten Land stehen, wurden die Namen der Frischgetrauten eingraviert. Sie gilt als erste der Altländer Hochzeitsbänke. Ein Gedenkstein steht dort, wo sich einst ihr Hochzeitshaus, der Gutshof der Schubacks, befand, und regelmäßig finden sogenannte „Lessing-Gespräche“ im städtischen Museum statt.
Jedes Jahr locken Blütezeit im Frühjahr, Kirschernte im Sommer und Apfelernte im Herbst Zigtausende von Besuchern ins Alte Land. Am ersten Maiwochenende eines jeden Jahres wird in Jork eine Blütenkönigin gekrönt und das Blütenfest gefeiert, es sei denn Corona macht den Altländern einen Strich durch die Rechnung. Gegen Corona sind eben auch hohe Deiche und moderne Entwässerungsanlagen machtlos. Das nächste Blütenfest findet am 7./8. Mai 2022 statt.