Es ist einige Jahre her, da kehrte ich von einem Besuch in Berlin nach Hamburg zurück. Meine Mutter war damals schon 96 Jahre alt, nahm aber noch immer regen Anteil am Leben ihrer Töchter und ließ sich gern von den neuesten Erlebnissen berichten. So erzählte ich ihr von einer Wanderung durch den Grunewald, die ich mit Berliner Freunden unternommen hatte. Sie stutzte: „Grunewald?“ Ihre Augen blitzten auf, sie hob die Arme wie zum Dirigieren und sang mit überraschend kräftiger Stimme: „Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion, ist Holzauktion, ist Holzauktion…“ Weiter kam sie nicht. „Ich habe den Text vergessen“, sagte sie betrübt. Das könne doch mal passieren, tröstete ich sie, griff zu meinem Handy und schaute bei Google nach: Holzauktion im Grunewald. Mutter blickte erwartungsvoll auf mein kleines technisches Wunderding, aus dem ich schon so manches Erstaunliche hervorgezaubert hatte. Auch dieses Mal sollte ich sie nicht enttäuschen. Schon einen Moment später tönte ein Chor aus dem Handy und Mutter fiel erfreut ein: „Links um die Ecke rum, rechts um die Ecke rum, überall ist große Holzauktion.“ Mehrere Strophen folgten. Schließlich lächelte sie zufrieden und sagte: „Das war ein Gassenhauer in meiner Kindheit.“ Also in den 1920er Jahren in Schlesien? Ich warf einen flüchtigen Blick auf weitere Informationen, die Google anbot. Da stand etwas von einem historischen Hintergrund, doch der interessierte mich im Moment nicht.
Bis ich erneut Berlin besuchte. Diesmal standen Grunewaldsee und Jagdschloss auf meinem Programm. Ich folgte der Route, die ich mir auf dem Stadtplan angesehen hatte. Vom Zentrum ging es zunächst Richtung Westen den Kurfürstendamm entlang. Schon erreichte ich die Koenigsallee und folgte ihr Richtung Süden. Noch einige Hundert Meter und ich würde mein Ziel erreichen. Da fielen mir zu beiden Seiten die vielen alten Villen auf.
Um einen genaueren Blick auf sie werfen zu können, drosselte ich die Geschwindigkeit, aber schon setzte hinter mir ein Hupkonzert ein. Spazieren fahren war hier nicht angesagt.
Also bog ich in eine schmale Seitenstraße ein und dann mal links, mal rechts in weitere Straßen, nur um immer noch mehr herrschaftliche Villen zu entdecken.
Mir fiel das Lied „Im Grunewald ist Holzauktion“ wieder ein. Der Wald lag nur einen Katzensprung von hier entfernt. Hatte ich nicht etwas von einem historischen Hintergrund gelesen? Waren die Bäume vielleicht gefällt worden, um diese Villen hier zu bauen? Ich beschloss, mich nun doch näher mit der Holzauktion zu befassen und erfuhr Erstaunliches.
Alles begann mit Otto von Bismarck, der von 1871 bis 1890 erster Kanzler des gerade in Versailles gegründeten Deutschen Reiches war. Die großzügig gestalteten Boulevards in Paris hatten ihn wohl beeindruckt und ihm gefiel der Gedanke, in der neuen Reichshauptstadt eine ähnliche Prachtstraße wie die Avenue des Champs-Élysées anlegen zu lassen. Berlin hatte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von einer preußischen Provinzhauptstadt zu einer Industrie- und Handelsstadt entwickelt. Die Einwohnerzahl war um fast das Doppelte auf 800.000 gestiegen. Bismarck ahnte, dass das rasante Wachstum unter den veränderten politischen Verhältnissen anhalten und Berlin sich zu einer Weltmetropole entwickeln würde, vielleicht sogar auf Augenhöhe mit London und Paris. Denn nach dem Sieg über Frankreich hatte eine große Euphorie eingesetzt. Massenweise zog es die Menschen in die neue Reichshauptstadt auf der Suche nach Arbeit und Chancen auf ein besseres Leben. Tatsächlich stieg die Einwohnerzahl bis 1914 sogar auf zwei Millionen. Wohnraum war schon vor der Reichsgründung knapp gewesen, doch nun beanspruchten neue öffentliche Gebäude und Geschäftshäuser weiteren Baugrund. Die Stadt expandierte über ihren historischen Kern hinaus in alle Himmelsrichtungen. Randbezirke und Nachbarstädte wie Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg und Tempelhof verzeichneten einen erheblichen Zustrom. Überall entstanden Wohnsiedlungen, oft mit öden Mietskasernen, die sich, eng und überbelegt, vielerorts zu Elendsquartieren entwickelten, seltener dagegen vornehme Villenviertel, umgeben von Grünanlagen. Eine neue moderne Verkehrsinfrastruktur musste für eine schnelle Verbindung zwischen Zentrum und Vororten sorgen.
Als Bismarck 1873 den zuständigen Behörden ein Gutachten zum Bau eines Prachtboulevards vorlegte, hatte er bereits eine genaue Vorstellung, wo dieser verlaufen sollte. Das französische Vorbild, die Avenue des Champs Élysées, führte stadtauswärts Richtung Bois de Boulogne. Entsprechend sollte das Berliner Pendant zum Grunewald führen. Als eine solche Route bot sich ein alter Reitweg an. Er war um 1540 zu Zeiten von Kurfürst Joachim II. als Verbindungsweg angelegt worden zwischen dem neu errichteten Jagdschloss am Grunewaldsee und der etwa 13 Kilometer entfernten kurfürstlichen Residenz an der Spree, wo heute das Berliner Stadtschloss steht. Das Gelände, durch das der westliche Teil des Weges führte, war stellenweise so sumpfig, dass man ihn mit Holzbohlen zum Knüppeldamm befestigte, und weil dieser von Markgrafen und Kurfürsten genutzt wurde, um zur Jagd in den Grunewald zu reiten, nannte ihn der Volksmund „Kurfürstendamm“. Der alte Reitweg schien Bismarck wie geschaffen als Verkehrsachse in den Westen. Von Vorteil schien auch die Tatsache, dass weiträumige Teile des Geländes dem Fiskus gehörten und kaum bebaut waren. Es brauchten also keine Stadtviertel abgerissen werden wie in Paris, was der Regierung eine Menge Ärger ersparen würde.
Nicht nur Bismarck hatte den Kurfürstendamm im Blick, auch bei anderen regten sich Begehrlichkeiten. Unter ihnen zwei Unternehmer aus dem Hamburger Raum, die Herren von Carstenn und Booth. Johann Anton Wilhelm von Carstenn war Grundstücksspekulant und Stadtplaner. Er hatte bereits das Villenviertel Marienthal bei Wandsbek, nahe Hamburg, entwickelt und erfolgreich vermarktet, war dann nach Berlin gegangen und hatte dort die Villenkolonie Lichterfelde gegründet. Die Idee von stadtnahen Villen- und Landhaussiedlungen, die wie Kolonien in angenehmer Umgebung lagen, hatte er aus England übernommen. Für die Entwicklung weiterer Projekte kaufte er große Flächen in den Vororten Berlins auf, wie in Halensee, Wilmersdorf und Friedenau. Seine Vision war die einer geeinten Stadt von Potsdam und Berlin, verbunden durch den Grunewald als Parklandschaft. Den alten Kurfürstendamm wollte er am liebsten zu einer vornehmen Wohnstraße ausbauen, an der sich zu beiden Seiten schöne Villen mit gepflegten Gärten reihten.
Auch John Cornelius Booth war ein erfolgreicher Unternehmer. Sein Großvater, James Booth, war einst aus Schottland an die Elbe gezogen und hatte in Klein-Flottbek eine Baumschule gegründet. John C. Booth ging im Elsass und in England in die Lehre und spezialisierte sich auf die Aufzucht von Waldbäumen für den Großanbau. Es gelang ihm, den Betrieb des Großvaters erfolgreich auszubauen. Zu seinen Kunden zählte Otto von Bismarck, auf dessen Gütern er neue Pflanzungen anlegte und zu dem er gute Beziehungen unterhielt. Auch Booth zog es in das aufstrebende Berlin. Am Kurfürstendamm, etwa in Höhe der heutigen Fasanenstraße, erwarb er 26 Hektar Land für die Gründung einer Baumschule.
Dem Kaiser gefiel Bismarcks Idee von einem Prachtboulevard nach französischem Vorbild wesentlich besser als die einer vornehmen Wohnstraße, wie Johann von Carstenn sie vorschlug. 1875 wurde Bismarcks Plan per Kabinettsorder bewilligt, allerdings mit der Begrenzung auf eine Straßenbreite von nur 53 Metern. Das französische Vorbild war fast doppelt so breit. Auch sollten die Investitionen nicht durch die Staatskasse sondern durch private Hand erfolgen.
Die privaten Investoren zögerten jedoch, denn inzwischen hatte sich die wirtschaftliche Lage eingetrübt und ein Börsenkrach heftige Schockwellen ausgelöst. Großprojekte fanden nur wenig Interesse, und wer auf eine hohe Rendite aus war, investierte in keine luxuriöse Verkehrsachse, die noch dazu in einen Wald führte. Es vergingen einige Jahre, ohne dass sich etwas tat. Bis der oben genannte John C. Booth 1881 ins Geschehen eingriff. Es ist überliefert, dass er einigen Briten von den Plänen des Prachtboulevards berichtete und man gemeinsam auf die Idee kam, entsprechende Investitionen an eine Gegenleistung zu knüpfen. Sie forderten das Vorkaufsrecht auf ein Stück Grunewald, das am westlichen Ende des Kurfürstendammes liegen und wo dann etwas völlig Neues entstehen sollte, vielleicht eine Pferderennbahn oder ein besonders luxuriöses Villenviertel.
Bismarck zeigte sich hocherfreut. Nach Jahren des Stillstands, in denen sich kein deutscher Investor gefunden hatte, könnte es nun mit dem Ausbau des Kurfürstendamm vorangehen. Jenes Stück Grunewald abzugeben, sei zu verschmerzen, meinte er, weil dort inzwischen die Berlin-Wetzlarer Eisenbahn entlang führte, ein militärisch genutzter Verbindungsweg nach Elsass-Lothringen, das seit dem Krieg zum Deutschen Reich gehörte. Durch den Bahnbetrieb hätte das Gelände für Forstwirtschaft und Jagd ohnehin an Bedeutung verloren. Deshalb begrüßte Bismarck das Angebot der Briten. Diese gründeten daraufhin die „Kurfürsten Avenue Land Company Limited“ mit Sitz in London. Auch der Kaiser zeigte sich zufrieden und erwartete nun „eine Straße in großartigem Stile“, wie es in einem Schreiben an seinen Kanzler heißt.
Die Herren hatten jedoch die Rechnung ohne die Berliner Behörden und all jene gemacht, die gegen eine Rodung von stadtnahem Waldgebiet ankämpften. Auch gab es Stimmen, die ein potentiell lukratives Projekt nicht britischen Investoren überlassen wollten. Wo immer es ging wurde Widerstand geleistet. Schließlich zogen sich die Briten zurück, auch weil sie inzwischen in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren.
John C. Booth gab jedoch nicht auf. Im August 1882 gelang es ihm, diesmal als Vertrauensmann eines deutschen Finanzkonsortiums, einen Vertrag mit der Königlichen Regierung zu Potsdam zu schließen, in dem er sich verpflichtete, die Kosten für den Bau des Boulevards zu übernehmen. Als Gegenleistung erhielt er zwecks Errichtung einer Villenkolonie 234 Hektar Grunewaldgelände zur Pacht auf 90 Jahre und mit Vorkaufsrecht. Noch im selben Jahr verkaufte Booth die Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag an die Deutsche Bank, die eigens für dieses Projekt die Kurfürstendamm-Gesellschaft gründete.
Nun war die Entscheidung von höchster Stelle gefallen, und somit stand dem Ausbau des Kurfürstendamms nichts mehr im Wege. 1883 konnten die Arbeiten beginnen und nur drei Jahre später war tatsächlich ein beeindruckender Boulevard entstanden, begrünt mit Akazien und versehen mit breiten Bürgersteigen, in der Mitte ein Reitweg, zu beiden Seiten Fahrbahnen und die Schienenstränge einer modernen Dampfstraßenbahn, die zwischen Zoologischem Garten und Halensee pendelte. 1886 wurde der Kurfürstendamm in Anwesenheit des Kaisers eingeweiht und innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte er sich zur Lebensader des neuen Berliner Westen. Noch heute verläuft er über 3,5 Kilometer vom Breitscheidplatz bis Halensee, eine weltbekannte Einkaufs- und Flaniermeile.
Wer nun glaubt, dass es mit dem Bau des Villenviertels genauso zügig voranging, der irrt. Da musste erst die Gefahr einer Cholera drohen.
Lesen Sie dazu den Artikel „Im Grunewald ist Holzauktion II – Die Millionärskolonie“.
1 comment
Das ist ja interessant! Wer hätte gedacht, was sich alles hinter solchen Gassenhauern verbirgt. Davon ahnen wahrscheinlich selbst die wenigsten Berliner was…