Marseille – Szenen einer faszinierenden Stadt

„Wenn ich nach Süden fahre“, sagt die Französin aus Lyon, „dann biege ich unten an der Küste nach links oder rechts ab.“ Nie käme sie auf die Idee, Marseille anzusteuern, um dort Urlaub zu machen. Aber genau das haben wir vor, ihre deutsche Freundin, die auch meine ist, und ich. Wir wollen eine Woche Urlaub in Marseille machen. Das ist unser Plan.

Wir starten in Berlin. Rund 1500 Kilometer sind es nach Marseille. Normalerweise lege ich derart lange Strecken lieber mit dem Flugzeug zurück. Doch meine Freundin meint, dass es mit dem Zug bequemer ginge. Man müsse nur einmal umsteigen und wäre nach insgesamt dreizehn Stunden am Ziel. Sie hat Erfahrung. Sie ist schon mehrmals auf diese Weise dorthin gereist. Also geht es mit dem ICE einmal quer durch Deutschland und ab Frankfurt mit dem TGV Richtung Süden ans Mittelmeer, vorbei an Straßburg, Lyon, Avignon und Aix-En-Provence. Es ist bereits dunkel, als wir Marseille erreichen. Kaum stehen wir auf dem Balkon unseres Hotelzimmers bietet sich uns große Kulisse: das nächtliche Marseille mit dem Alten Hafen und dahinter, auf der höchsten Erhebung der Stadt (154 Meter) und feierlich bestrahlt, die Basilique Notre Dame de la Garde, das Wahrzeichen von Marseille.

Das nächtliche Marseille © Petra Häring-Kuan

Milde Temperaturen und Sternenhimmel stimmen uns auf das mediterrane Lebensgefühl ein. Auf der Flaniermeile am Hafen, in Straßencafés und Restaurants ist noch einiges los.

Spaziergänger zu später Stunde © Petra Häring-Kuan

Wir beschließen, nach der langen Zugfahrt noch einen kleinen Rundgang zu machen, und so kann ich gleich die ersten Sehenswürdigkeiten bestaunen: den Alten Hafen, das historische Rathaus und die beiden Festungen, Saint-Nicolas und Saint-Jean, die über den Zugang zum Alten Hafen wachen.

Fort Saint-Nicolas © Petra Häring-Kuan

Marseille – eine griechische Gründung

Marseille ist die älteste und nach Paris die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Sie wurde von Griechen gegründet, den Phokaiern aus Kleinasien.

Zwischen dem 8. und 6. vorchristlichen Jahrhundert weiteten die Griechen ihren Einfluss- und Siedlungsbereich im Mittel- und Schwarzmeerraum aus, indem sie an den Küsten Handelsniederlassungen und Städte gründeten. Nicht zentral gesteuert war dieses Vorgehen. Vielmehr entsandten selbstständige Städte wie Korinth, Milet oder Chalkis ihre Leute zwecks Suche neuer Siedlungsplätze an fremde Küsten. Grund dafür konnten Landnot in Folge von erheblicher Bevölkerungszunahme sein, Perspektivlosigkeit oder Auseinandersetzungen innerhalb ihrer Stadt. Die neuen Siedlungen wurden als selbstständige Gemeinwesen geführt. Sie waren ihren Mutterstädten verbunden, aber nicht von ihnen abhängig.

Wichtig für eine Neugründung war die Lage. Sie musste über sichere Anlegeplätze verfügen und über fruchtbares Umland. Auch die Nähe zu einem Fluss war bedeutend, wenn man mit dem Hinterland Handel treiben wollte. Dies alles traf für den Platz zu, den die Phokaier um 600 v. Chr. an der Küste des heutigen Südfrankreichs entdeckten: einen günstig gelegenen Naturhafen, nahe der Rhone-Mündung, mit nutzbarem Land und hinreichender Wasserversorgung. Etwa 600 Erwachsene sollen damals an Land gegangen sein.

Einfahrt in den Naturhafen © Petra Häring-Kuan

Eine Legende erzählt von Protis, ihrem Anführer, der wahrscheinlich einem adligen Geschlecht aus Phokaia entstammte. An dem Tag ihrer Ankunft fand die Hochzeit von Prinzessin Gyptis statt, der einzigen Tochter des einheimischen keltischen Königs Nann. Die Neuankömmlinge durften an den Feierlichkeiten teilnehmen. Nach altem Brauch wählte die Prinzessin am Tag ihrer Hochzeit unter den versammelten adligen Freiern ihren Bräutigam aus, und ihre Wahl fiel auf den zufällig anwesenden Protis. Griechen und Kelten fanden zusammen und gründeten am Nordufer des Naturhafens eine gemeinsame Siedlung, die sie Massalia nannten. So jedenfalls will es die Legende.

Massalia, heute Marseille, entwickelte sich rasch zu einer reichen Hafen- und Handelsstadt und zu einem wichtigen Brückenkopf zwischen der griechischen Welt und den westlichen Küsten des Mittelmeers. Schon im 4. Jahrhundert v. Chr. erlebte Marseille eine erste Blütezeit. Eine weitere folgte im 11. Jahrhundert, als die Stadt zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte. Im 13. Jahrhundert galt Marseille als unabhängige Republik. Erst Ende des 15. Jahrhunderts musste sich die Stadt der Herrschaft der französischen Krone unterordnen.

Marseille – ein Schmelztiegel der Kulturen

Seit über 2600 Jahren zieht es Menschen aus allen Ecken der Welt in diese Stadt, Griechen, Italiener, Armenier, Türken, Marokkaner, Algerier, Libanesen, Senegalesen – man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Laut Wikipedia liegt der Migrantenanteil heute bei 40 Prozent. Rechnet man jedoch frühere Einwanderungswellen hinzu, sollen 90 Prozent der rund 870.000 Einwohner Marseilles Vorfahren haben, die nicht aus Frankreich stammen.

Graffitis spiegeln den Migrationshintergrund wider © Petra Häring-Kuan
© Petra Häring-Kuan
© Petra Häring-Kuan

Gemeinsam haben sie einen ganz besonderen Menschenschlag hervorgebracht. Die Marseiller gelten als stolz, hartnäckig und aufmüpfig. Gehorsam gegenüber der Obrigkeit war nie ihr Ding. Und voller Kampfesgeist waren sie auch. Im Jahre 1792 zogen fünfhundert von ihnen als Freiwillige nach Paris, um während der Französischen Revolution die Aufständischen gegen den Adel zu unterstützen. Beim Einzug in Paris, kurz vor dem Tuileriensturm, sangen sie einen mitreißenden Marsch, den ein Straßburger komponiert haben soll und der eigentlich zum Kampf gegen die Länder jenseits des Rheins aufrief. Am 14. Juli 1795 wurde das Lied zur französischen Nationalhymne erklärt. Heute ist es als Marseillaise bekannt.

Christen, Muslime, Juden, ein enges Nebeneinander von Arm und Reich. Es gab und gibt noch immer viel Zündstoff in dieser Stadt. Jahrelang ging es mit ihr bergab. Wirtschaftliche Stagnation, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Kriminalität, Wohnungskrise infolge vernachlässigter Häuser – viele Einwohner hatten genug davon und wanderten seit den 1970er Jahren ab. Die täglichen Nachrichten in den Medien vermeldeten Drogenhandel, Bandenkriege, Mord und Totschlag. Die Menschen verbarrikadierten sich. Marseille schien eine sterbende Stadt zu sein. Im Jahre 1995 kam die Wende. Das Großprojekt Euroméditerranée wurde ins Leben gerufen, Marseille sollte von Grund auf saniert, ausgebaut und zukunftsfähig gemacht werden. Es wurde geplant und viel Geld in die Hand genommen. Als dann noch im Jahre 2008 das Rennen um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2013 gewonnen wurde (zusammen mit Kosice, Slowakei), nahm die Entwicklung richtig Fahrt auf. Marseille geriet zur größten Baustelle Südeuropas. Und die Ergebnisse können sich sehen lassen. Pünktlich zum Start als Kulturhauptstadt 2013 konnten diverse Projekte vollendet werden. Marseille gilt heute wieder als Perle am Mittelmeer, aufregend, attraktiv und faszinierend, zwar als eine Stadt mit vielen Problemen, aber dennoch atemberaubend.

Vieux Port, der Alte Hafen © Petra Häring-Kuan

Das Herz von Marseille – der Vieux Port

Gleich am ersten Morgen geht es erneut an den Vieux Port, den Alten Hafen, und damit zur Urzelle der Stadt. Hier gingen die Griechen einst an Land. Von hier knüpften sie ein Handelsnetz mit den Mittelmeerländern. Der Vieux Port machte die Stadt reich. Doch wegen des flachen Tiefgangs von nur sechs Metern können ihn moderne Frachtschiffe nicht mehr anlaufen. Bereits im 19. Jahrhundert begann der Bau neuer Hafenanlagen, so dass sich die Hafenwirtschaft weitgehend nach Norden verlagerte.

Fähren nach Korsika und Nordafrika sowie kleine Kreuzfahrtschiffe gehen von den Docks de la Joliette ab © Petra Häring-Kuan

Große Kreuzfahrtschiffe legen in etwa acht Kilometer Entfernung an und Containerschiffe im 50 Kilometer entfernten Fos-sur-Mer. Der Hafen von Marseille ist der größte Frankreichs und einer der wichtigsten der Welt. CMA CGM, die weltweit drittgrößte Reederei, hat hier ihre Zentrale, in dem weithin sichtbaren und von der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid geschaffenen 33-stöckigen Büroturm.

Das Meer, die Seefahrt und Marseille gehören zusammen und über all dem wacht La Bonne Mère, die gute Mutter. Von der Turmspitze der Basilique Notre Dame de la Garde, hoch über dem Vieux Port, schaut sie herab, die Heilige Jungfrau mit ihrem Kind, und spendet all jenen Schutz, die sich aufs Meer hinausbegeben und dafür lieben und verehren sie die Menschen in dieser Stadt.

Basilique Notre Dame de la Garde © Petra Häring-Kuan

Die vergoldete Statue misst rund 10 Meter. 1874 wurde die Basilika im romanisch-byzantinischen Stil fertiggestellt, nach einem Entwurf des französischen Architekten Henri-Jacques Espérandieu. Sie gehört zu den meist besuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Der Alte Hafen mag an wirtschaftlicher Bedeutung verloren haben, als Zentrum der Stadt wird er weiterhin betrachtet. Frachtschiffe sieht man keine mehr, stattdessen unzählige Yachten, Fähren, Fischer- und Touristenboote und jede Menge Hotels, Restaurants und Cafés an den drei Seiten, die den Alten Hafen wie ein „U“ umschließen. Das Augenmerk des Vieux Port liegt heute auf Fremdenverkehr, Sport und Freizeitgestaltung.

An seiner Stirnseite, nahe dem Quai des Belges, verkaufen Fischer in den frühen Morgenstunden ihren nächtlichen Fang. Der Andrang ist groß, denn hier bekommt man die wichtigsten Zutaten für die berühmte Bouillabaisse, die provenzalische Fischsuppe. Der Vieux Port gilt vielen als Wiege derselben.

Zutaten für die Bouillabaisse © Petra Häring-Kuan

Frischer, edler Fisch gehört in eine gute Bouillabaisse, und zwar müssen es mindestens fünf verschiedene Sorten sein. Selbstverständlich alle heimisch im Mittelmeer. Ebenso dürfen Meeresfrüchte nicht fehlen, etwa Muscheln und Langusten.

Woher der Name Bouillabaisse stammt, erfahre ich während einer Stadtrundfahrt. Im provenzalischen Dialekt beinhaltet er die Anleitung zum Kochen (bouillir) auf kleiner Flamme (abaisser). Wie so oft bei Spezialitäten war auch die berühmte Bouillabaisse ursprünglich ein Armeleute-Essen, zubereitet aus Fischresten und Gemüse.

Der Schattenpavillon L’Ombrière © Petra Häring-Kuan

In unmittelbarer Nachbarschaft steht der Ombrière des britischen Architekten Sir Norman Foster. Als Marseille 2008 das Rennen um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2013 gewann, wurden verschiedenste Maßnahmen zur Verschönerung der Stadt beschlossen. Einen Schwerpunkt bildete die Neugestaltung des Areals rund um den Alten Hafen, mit der eine Expertengruppe betraut wurde, zu der auch Norman Foster gehörte. Der angesehene und vielfach ausgezeichnete Architekt versuchte eine optische Verbindung zwischen Stadt und Hafen herzustellen, indem er einen reflektierenden, schattenspendenden Pavillon schuf. Dabei handelt es sich um eine 46 x 22 Meter große Platte aus Edelstahl und Hartschaum, die auf acht Pfosten in sechs Meter Höhe ruht und mit ihrer polierten Unterseite Boden, Meer und Umgebung reflektiert. Durch die Spiegelung entsteht ein optisches Phänomen, das im ersten Moment irritiert und trotzdem beeindruckt.

Schattenpavillon © Petra Häring-Kuan

Ein Bummel durch die Altstadt Le Panier, einst berüchtigt, heute Szeneviertel

Am nördlichen Ufer des Hafens befindet sich die Altstadt von Marseille. Sie entstand auf den Fundamenten der antiken griechischen Siedlung Massalia. Mit ihren engen winkligen Gassen und steilen Treppenwegen gleicht sie einem Geflecht, weshalb sie auch Le Panier, der Korb, genannt wird.

Enge Gassen im Le Panier © Petra Häring-Kuan

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in dem von Verfall gezeichneten Viertel vor allem Arme und Bedürftige. Illegale Einwanderer, Kriegsflüchtlinge und verfolgte Juden fanden hier Unterschlupf, ebenso Kriminelle, die dunkle Geschäfte und Prostitution organisierten und das Viertel in Verruf brachten. Heute lebt im Le Panier ein buntes Völkergemisch. Mit kreativen Ideen schufen sie ein sympathisches Szeneviertel. Kleine Läden, Galerien und Lokale locken Besucher an, sonnige Plätze und versteckte Höfe sorgen für fast dörfliche Atmosphäre.

Überall sichtbar die Liebe zu Pflanzen und Blumen © Petra Häring-Kuan

Auffallend und faszinierend sind die vielen Wandgemälde und Graffiti. Le Panier und ebenso das nicht weit entfernt gelegene Viertel Cours Julien sind Zentren der berühmten Marseiller Street-Art.

Street-Art an Treppenwegen © Petra Häring-Kuan

Mittelpunkt der antiken griechischen Siedlung war der Marktplatz, der noch immer existiert, aber inzwischen Place de Lenche genannt wird, nach einer reichen Kaufmannsfamilie, die einst in diesem Viertel lebte. Der Platz ist ein beliebter Treffpunkt für Einheimische und Touristen.

Place de Lenche © Petra Häring-Kuan

Ursprünglich sollen ihn Häuserreihen auf allen vier Seiten gesäumt haben. Doch nach Süden ist die Sicht heute frei. Die Häuser sind im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen weggesprengt worden.

Die Südseite des Place de Lenche © Petra Häring-Kuan

Als die deutsche Wehrmacht im November 1942 Marseille einnahm und sich die Resistance zur Wehr setzte, vermuteten die Besatzer das Herz des Widerstands im unübersichtlichen Gassengewirr des Le Panier-Viertels, dort wo Tausende Emigranten, Juden und andere sogenannte Unerwünschte untergetaucht waren. Also wurde von Hitler die Sprengung angeordnet und am 22.1.1943 die „Operation Sultan“ in Gang gesetzt. Mit Unterstützung von Behörden und Polizei des Vichy-Regimes wurden 20.000 Bewohner aus dem Viertel vertrieben und zwangsumgesiedelt. Sie hatten zwei Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen. 2000 Juden wurden deportiert und ermordet, mehr als 1400 Häuser gesprengt. Das sind die Zahlen, die das „Mémorial des déportations“ angibt. Das Museum erinnert in eindrucksvoller Weise mit Texten, Film- und Tonaufnahmen an jene dunklen Tage. Es befindet sich nicht weit entfernt in dem Lazarett-Bunker, den die Deutschen 1943 für ihre Kriegsmarine bauten. (Avenue Vaudoyer, am Fuße des Forts Saint-Jean)

Mémorial des déportations © Petra Häring-Kuan

Nach der Befreiung im August 1944 räumten die Marseiller die Trümmer fort und füllten die Brachstellen in den 1960er und 1970er Jahren mit Zweckbauten, die bis heute das Nordufer des Vieux Port prägen. Nur das historische Rathaus blieb vor der Sprengung verschont.

Yachthafen und Quai de Port mit Neubauten und Rathaus © Petra Häring-Kuan

La Vieille Charité

Die vielen Straßencafés des Le Panier laden zu kleinen Pausen ein. Es ist ein reiner Glücksfall, dass wir zur Mittagszeit noch einen freien Tisch ergattern

Straßencafé mit Street-Art im Le Panier © Petra Häring-Kuan

Als ich mich umsehe, entdecke ich den Eingang zu einem beeindruckenden Bauwerk: La Vieille Charité, das ehemalige Armenhaus der Stadt.

Eingang La Vieille Charité © Petra HäringKuan

Bedürftige und Obdachlose wurden hier untergebracht. Sie konnten ein Handwerk und bei Bedarf Lesen und Schreiben lernen. Architekt der Anlage war Pierre Puget (1620-1694). Er stammte aus diesem Viertel und gehörte zu den bevorzugten Baumeistern von Ludwig XIV. (1638-1715) Die Fertigstellung (1749) erlebten beide nicht mehr.

La Vieille Charité besteht aus vier Gebäudeflügeln mit jeweils drei Etagen und langen Arkadenreihen © Petra Häring-Kuan

Aus dem Armenhaus wurde später ein Kinder- und Altenheim, dann ein Standort des Militärs und schließlich ein Unterschlupf für verarmte Familien. Die Anlage verfiel zusehends und wäre abgerissen worden, wenn nicht der berühmte Schweizer Architekt Le Corbusier eingegriffen hätte. Sein Engagement führte zum Erhalt von La Vieille Charité. Inzwischen beherbergt die Anlage mehrere Museen und ein Café.

La Vieille Charité, Kapelle im Innenhof © Petra Häring-Kuan

Le Corbusier rettete nicht nur La Vieille Charité. Marseille verdankt ihm einen weiteren Bau, der unter Denkmalschutz steht und zum UNESCO Welterbe gehört: die Cité Radieuse, auch einfach nur „Le Corbusier“ genannt, ein Betonbau mit 337 Apartments und 1952 fertiggestellt.  (am Boulevard Michelet 280) Es war ein Anliegen Le Corbusiers, preiswerten und dennoch komfortablen Wohnraum für eine breite Bevölkerungsschicht zu schaffen.

Hôtel Dieu – Intercontinental Hotel Marseille

Am Rande des Le Panier lockt uns das Luxushotel Hôtel Dieu – Intercontinental zu einer Stippvisite. Es bietet einen fantastischen Blick auf den Hafen.

Hôtel Dieu – Intercontinental © Petra Häring-Kuan

Im 12.  Jahrhundert befanden sich hier Einrichtungen zur Versorgung Bedürftiger und Kranker. Im 18. Jahrhundert erweiterte man die vorhandenen Einrichtungen zum Hôtel-Dieu,  dem zentralen Krankenhaus von Marseille. Nachdem 1993 die letzten Patienten das Hôtel Dieu verlassen hatten, wurde aus dem Krankenhaus eine medizinische Ausbildungsstätte. Doch damit war bereits 2006 Schluss und eine neue Nutzung wurde diskutiert. 2007 gelang es der Firma AXA Real Estate, den Gebäudekomplex für 99 Jahre zu pachten. 120 Millionen Euro sollen in den Umbau investiert worden sein. 2013 öffnete das Luxushotel seine Türen.

Hôtel Dieu mit Hafenblick © Petra Häring-Kuan

Westlich der Altstadt Le Panier entstand im Zuge der großflächigen Sanierungsmaßnahmen ein moderner Kulturkomplex, zu dem das Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, kurz MuCEM genannt, gehört. Verbunden durch eine Fußgängerbrücke bildet es mit der Festung Saint-Jean ein gemeinsames Museum.

MuCEM, bestehend aus Neubau und Fort Saint-Jean © Petra Häring-Kuan

Wie der Name verrät, ist das Thema des MuCEM der gesamte Mittelmeerraum mit all seinen Facetten. Schon von außen sieht der Neubau ungewöhnlich aus: ein Quader aus Glas und Beton, teilweise versehen mit einer dunklen stählernen Verkleidung, die wie filigrane Spitze wirkt. Der Entwurf ist ein Werk des französischen Architekten Rudy Ricciotti, der in Algier zur Welt kam und italienische Vorfahren hatte.

Die Stahlverkleidung erinnert an filigrane Spitze © Petra Häring-Kuan

Ein riesiges Areal und viele Angebote erwarten uns. Wir entscheiden uns für eine Ausstellung zum Thema Mittelmeerkost und erfahren, was diese beinhaltet und welche Vorzüge sie besitzt. Eine weitere Ausstellung informiert über die Geschichte Alexandrias.

Natürlich sollte man sich auch das Fort Saint-Jean ansehen. Zusammen mit dem gegenüber liegenden Fort Saint-Nicolas wachte es über die Zufahrt in den Hafen. Der Bau beider Festungsanlagen ging auf den Befehl von Ludwig XIV. zurück und war deshalb von Anfang an ein ungeliebtes Symbol royaler Macht aus dem fernen Paris, zumal die vorhandenen Kanonen bei Bedarf auf die Stadt gerichtet wurden, um zu demonstrieren, wer hier das Sagen hatte.

Zwei Festungen bewachten Hafen und Bevölkerung © Petra Häring-Kuan

Nur wenige Schritte entfernt steht die Villa Méditerranée, ein Bau des italienischen Architekten Stefano Boeri. Als Kulturzentrum geplant, beherbergt es heute eine Nachbildung der berühmten Cosquer-Grotte.

Villa Cosquer Méditerranée © Petra Häring-Kuan

Zwischen Marseille und dem Fischerdorf Cassis erstreckt sich über 20 Kilometer das Calanques-Massiv, dessen Küstenstreifen mit seinen tiefeingeschnittenen Buchten und schroffen Kalkfelsen zum Tauchen und Klettern einlädt. Hier war der Tauchlehrer Henri Cosquer unterwegs, als er 1985 eine Grotte bemerkte, die nur durch eine schulterbreite Öffnung zugänglich war. Cosquer zwängte sich hindurch und entdeckte die älteste verzierte Unterwasserhöhle der Welt. Sie hat eine Geschichte von rund 30.000 Jahren, was beweist, dass diese Gegend bereits früh besiedelt war.

Mit Farbstoffen aus Pflanzenextrakten, Holzasche und Oxidpigmenten schufen die Menschen der Altsteinzeit atemberaubende Felsmalereien, mehr als 500 Zeichnungen, die Tiere ihrer Zeit darstellen, darunter Pferde, Robben, Steinböcke, Bisons und sogar drei Pinguine.

Prospekt der Villa Cosquer Méditerranée

Lange Zeit verschwieg Cosquer seinen Fund, um die Malereien vor einer breiten Öffentlichkeit zu schützen. Doch 1991 fanden drei Freizeittaucher den Zugang zur Grotte und kamen darin ums Leben. Henri Cosquer sah sich gezwungen, nun endlich die Behörden über die Felsmalereien zu informieren. Daraufhin übernahm der Staat den Schutz der Grotte, sicherte den Zugang ab und erlaubte nur ausgewählten Unterwasserarchäologen einen Besuch. Doch es droht Ungemach. Der Klimawandel und der damit einhergehende steigende Meeresspiegel setzen der gesamten Grotte zu. Um die einzigartigen Zeugnisse aus der Altsteinzeit für die Nachwelt zu retten, scannten Experten per 3-D Grotte und Wandmalereien und bauten sie detailgetreu nach, zu besichtigen hier, in der Villa Méditerrané.

Cathédrale de la Major © Petra Häring-Kuan

Nördlich der beiden Museen erhebt sich die mächtige Cathédrale de la Major. Wie die alles überragende Basilika Notre Dame de la Garde am Vieux Port wurde auch sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut. Die farblich abwechselnden Schichten aus dunklem und hellem Sandstein sind ungewöhnlich und haben zum Spitznamen “Pyjama” geführt, wie ein örtlicher Stadtführer erzählt.

Cathédrale de la Major von innen © Petra Häring-Kuan

Cours Julien – das Künstlerviertel von Marseille

Das Künstlerviertel Cours Julien befindet sich etwa einen Kilometer östlich vom Alten Hafen.

Treppen-Graffiti, Cours Julien © Petra Häring-Kuan

Wer zu Fuß geht, erlebt einmal mehr das für Marseille so typische Auf und Ab von Straßen und Treppen.

© Petra Häring-Kuan

Der Cours Julien ist breit angelegt. Einst befand sich hier der zentrale Obst- und Gemüsemarkt, der aber schon zu Beginn der 1970er Jahre in ein anderes Viertel zog. Dennoch finden hier noch immer regelmäßig kleinere Märkte statt, wie für Blumen oder antiquarische Bücher.

© Petra Häring-Kuan

Lange Zeit galt auch dieses Viertel als zwielichtig. Doch die Zeiten haben sich geändert. Breite Terrassen, Wasserspiele und Bäume laden zum Verweilen ein. Geschäfte, Straßencafés, Galerien, Bars und ebenso das rege Nachtleben locken ein breites Publikum an. Angesagte Restaurants sind schnell ausgebucht. Rechtzeitige telefonische Platzreservierung wird deshalb empfohlen.

Manche Restaurants sind nur abends geöffnet © Petra Häring-Kuan

Vor allem aber gilt das Viertel als Mekka der Street-Art, ähnlich dem Altstadtviertel Le Panier.

Street-Art im Cours Julien © Petra Häring-Kuan

Vorsicht ist geboten

Die Problemviertel der Stadt meiden wir. Doch eine vage Ahnung von den Schwierigkeiten bekomme ich, als wir an einem frühen Abend die berühmte Straße La Canebière Richtung Alter Hafen entlanglaufen und die vielen Obdachlosen sehen, die dort ihr Nachtlager aufschlagen. Oder als im Cours Julien-Viertel am helllichten Tage ein älterer Herr niedergeschlagen wird, was sofort zu einer tumultartigen Auseinandersetzung führt. Man muss auf der Hut sein, ohne jeden Zweifel. Als wir über einen malerischen Markt schlendern, der hauptsächlich von Einheimischen besucht wird, beobachten uns zwei Polizisten und erkennen sofort, dass wir Touristinnen sind. Freundlich fordern sie uns auf, unsere Taschen vorne am Bauch zu tragen und vorsichtig zu sein.

Markt im Osten der Stadt © Petra Häring-Kuan

Am Tag unserer Ankunft stürzt im Osten von Marseille ein baufälliges Haus zusammen. Mehrere Bewohner werden getötet und verletzt. Im Rathaus liegen Kondolenzbücher aus. Verwandte und Freunde, die uns in Marseille wissen, sind besorgt und fordern uns zur Vorsicht auf. Doch zur selben Zeit steht in Hamburg eine riesige Lagerhalle in Flammen, und wie es später in der Presse heißt, hätte die Stadt nur wenig Mittel, um derartige Fälle zu verhindern. Probleme gibt es also nicht nur in Marseille. Einmal stolpert die Freundin über eine Unebenheit und stürzt zu Boden. Sofort sind viele hilfreiche Hände zugegen. Haben Sie sich verletzt? Brauchen Sie Hilfe? Die Freundlichkeit der Marseiller fällt mir schon am ersten Tag auf und sie ist wohl einer der Gründe, warum viele Menschen diese Stadt lieben.

Und dann kommt die eingangs erwähnte Französin doch tatsächlich nach Marseille. Zwei Tage will sie bleiben, um mit uns nach Cassis und Aix-En-Provence zu fahren. Aber wie es so ist – sie sieht den Alten Hafen, ist bezaubert von der Altstadt und dem Künstlerviertel Cours Julien und schlägt vor, noch einiges mehr in Marseille anzusehen. Die Zeit reicht schließlich nur noch für einen kurzen Ausflug nach Cassis. Anerkennend stellt sie fest, dass sich wider Erwarten in den vergangenen zwei Jahrzehnten einiges getan haben muss in dem einst so berüchtigten Marseille. Scheinbar gingen die Bemühungen der Stadtsanierer in die richtige Richtung.

Marseille – ich komme wieder

Wir erwandern die Stadt, legen jeden Tag viele Kilometer zurück. Nur zweimal nehmen wir für Ausflüge nach Cassis und Aix-En-Provence die günstigen und gut getakteten Busverbindungen des öffentlichen Nahverkehrs in Anspruch.

Noch in Berlin hörte ich meine Freundin sagen, dass sie jedes Mal, wenn sie Marseille verlässt, sofort beschließt wiederzukommen.

Sieben Tage sind schnell vergangen. Wir treten die Heimreise an und kaum werfe ich einen letzten Blick auf den Alten Hafen und die Stadt, geht auch mir durch den Kopf: Marseille, ich komme wieder! Es gibt noch so viel zu sehen und zu erleben.

© Petra Häring-Kuan
1 comment
  1. Sehr gut beschrieben, auch die problematischen Seiten wurden nicht ausgelassen. Wie ist die aktuelle Kunstszene jenseits der Graffitis? Hamburg hat, glaube ich eine Kooperation und vergibt Stipendien nach Marseille im Bereich bildender Kunst. –
    … da möchte ich gleich starten!
    Herzlich, Beatrice

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