Vor 125 Jahren, am 14. November 1897, besetzt die deutsche Kaiserliche Marine die Bucht von Jiaozhou (alte Umschrift: Kiautschou) am Gelben Meer und zwingt die chinesische Regierung zur Unterzeichnung eines Pachtvertrages über 99 Jahre. Hauptstadt des neuen „Deutschen Schutzgebietes Kiautschou“ wird Qingdao (übersetzt: Grüne Insel), ein ehemaliges Fischerdorf, das sich innerhalb kürzester Zeit und für heutige deutsche Verhältnisse unvorstellbar schnell zu einer deutschgeprägten Stadt entwickelt. Womit damals niemand rechnet: Schon nach siebzehn Jahren ist das Abenteuer vorbei. Die Japaner erobern Jiaozhou im Jahre 1914 und setzen der deutschen Kolonialherrschaft in China ein Ende.
Etwa hundert Jahre später wird der deutsche Architekt, Stadtplaner und Denkmalpfleger Dr. Gert Kaster nach Qingdao eingeladen. Es geht um die Instandsetzung der von den Deutschen errichteten Gebäude. Man braucht den Rat und die Unterstützung eines Experten. Aber ist der pensionierte Kieler Regierungsbaudirektor überhaupt der richtige Mann? Um das herauszufinden, führen ihn die Gastgeber gleich nach seiner Ankunft zur Christus-Kirche.
Dort gibt es ein merkwürdiges in Stein gehauenes Symbol, das bisher niemand zu deuten wusste. Kaster erkennt in ihm sofort ein Element deutscher Steinmetztradition. Die Gastgeber sind zufrieden. Gert Kaster ist der richtige Mann, und als solcher macht er sich sogleich an die Arbeit.
„Ein Platz an der Sonne“ – ein kurzer Rückblick
Nach dem Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 mehrten sich die Stimmen, dass Deutschland nun auch „ein Platz an der Sonne“ zustehe, wie es der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, ausdrückte. Damals hing das Ansehen eines Landes unter anderem vom Erfolg imperialistischer Unternehmungen in Übersee ab. Die europäischen Seefahrernationen hatten große Teile der Welt bereits unter sich aufgeteilt. Der Flickenteppich an deutschen Fürstentümern, Kleinstaaten und Reichsstädten hatte da nicht mithalten können, denn um in Übersee zu expandieren, bedurfte es einer starken Flotte und entsprechender Stützpunkte. War Deutschland also zu spät dran? Nicht aus Sicht des jungen Wilhelm II., der 1888 seinem Vater auf den Kaiserthron gefolgt war. Er forcierte den Ausbau der Kaiserlichen Marine, um endlich in der Kolonialpolitik mitmischen zu können und Deutschland zu einer Weltmacht zu machen. Afrika, die pazifische Inselregion und China standen im Fokus des Interesses.
Der deutsche Geograph und Kartograph Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833-1905) hatte bereits über mehrere Jahre auf sieben ausgedehnten Forschungsreisen große Teile Chinas wissenschaftlich erschlossen hinsichtlich geographischer, geologischer und klimatischer Bedingungen, Fauna und Flora, Wirtschaft und Gesellschaft. Er empfahl die Besetzung der chinesischen Provinz Shandong, denn wer Shandong besäße, hätte Zugang zu China, so seine Aussage. Vor allem den Zugang zu den chinesischen Kohlevorkommen, weshalb er in sein Kartenmaterial auch gleich eine mögliche Schienenverbindung einzeichnete. Seit dem technischen Wechsel von der Segel- zur Dampfschifffahrt war Kohle für den Antrieb unerlässlich. Bisher war sie von den Briten an die chinesische Küste transportiert und teuer verkauft worden.
Auch der Kieler Ingenieur und Hafenbaumeister Georg Franzius hatte sich in China umgesehen und die Bucht von Jiaozhou nach umfangreichen Vermessungen für den Bau eines Flottenstützpunktes als tauglich befunden. Er befürwortete deshalb die Empfehlung des Freiherrn von Richthofen. Ebenso der mächtige Admiral Alfred von Tirpitz, Chef des deutschen Ostasien-Geschwaders, nachdem er mehrere mögliche Standorte an der chinesischen Küste erkundet hatte. Man mag sich heute fragen, wie es möglich war, dass ausländische Experten lange Erkundungsreisen durch China unternehmen durften, um ganz offensichtlich Informationen für eine spätere Eroberung von bestimmten Gebieten zu sammeln. Sah die chinesische Regierung diesem Geschehen einfach tatenlos zu? Keineswegs. Aber sie war zu geschwächt und hatte der modernen Kriegstechnik westlicher Länder nicht viel entgegenzusetzen. Deshalb konnten vor allem Briten, Franzosen und Amerikaner nach den sogenannten Opiumkriegen die Öffnung des Landes erzwingen und Zugeständnisse fordern, die anschließend auch von anderen westlichen Ländern genutzt wurden, wie in diesem Fall das Recht auf Reisefreiheit.
Die Eroberung der Bucht von Jiaozhou war in Berlin schnell beschlossen. Schon hielt sich eine deutsche Kreuzer-Division im Gelben Meer bereit. Es musste nur noch ein Grund gefunden werden, der eine Besetzung rechtfertigte, sowohl gegenüber dem chinesischen Kaiser als auch den anderen westlichen Staaten. Der Mord an zwei deutschen Missionaren im Süden der Provinz gab schließlich den ersehnten Anlass. Noch bevor die chinesische Regierung von dem Vorfall erfuhr, befahl Kaiser Wilhelm II. bereits, den Tod der beiden Männer mit der Eroberung der Jiaozhou-Bucht zu sühnen.
Die Besetzung geschah innerhalb weniger Stunden und ohne Gegenwehr, weil die in der Bucht stationierte chinesische Militäreinheit von einem Freundschaftsbesuch der deutschen Marine ausging. Denn nur kurz zuvor hatte der in Peking ansässige deutsche Gesandte, Edmund Freiherr von Heyking, im Zuge einer Reise hier einen Stopp eingelegt und war von dem Dienst habenden General freundlich empfangen worden. Nun wurde demselben General ein Ultimatum gestellt. Er sollte mit seiner Truppe innerhalb von drei Stunden den Ort verlassen. Die deutschen Marinesoldaten hatten bereits alle strategisch wichtigen Anhöhen in der Umgebung eingenommen.
Qingdao heute
Ich bin mehrmals nach Qingdao gereist. Bei meinem ersten Besuch im Jahre 1975 wähnte ich mich in einem Ferienort an der Ostsee. Häuser, Straßen, Grünanlagen, ja allein schon der Bahnsteig, auf dem ich mit dem Zug angekommen war, dies alles wirkte typisch deutsch. Es schien, als hätten die ehemaligen Besatzer den Ort gerade erst verlassen.
Heute ist Qingdao eine moderne Großstadt mit etwa zehn Millionen Einwohnern und einem der weltgrößten Containerhäfen. Wie in einem Ort an der Ostsee fühlt man sich schon lange nicht mehr, obwohl es noch immer etliche alte Gebäude aus den Anfangsjahren gibt.
Zehn Jahre sind vergangen seit Dr. Kaster zum ersten Mal nach Qingdao reiste, um die erhaltene deutsche Bausubstanz in Augenschein zu nehmen. Er konnte viele Ratschläge geben und mit seinem reichen Erfahrungsschatz zur Denkmalpflege in Qingdao beitragen. Von besonderer Bedeutung ist sein 2018 erschienenes, reich bebildertes und großformatiges Buch, mit dem er die Geschichte der ersten siebzehn Jahre Qingdaos dokumentiert.
Die Vogelschaupläne von Qingdao (die heute übliche Umschrift von Tsingtau)
Bei der Recherche zur frühen deutschen Bautätigkeit stieß Dr. Kaster auf sogenannte Vogelschaupläne, auf denen die schrittweise Entwicklung von Qingdao festgehalten wurde. Vogelschaupläne stellen Landschaften oder Städte aus der Perspektive eines hochfliegenden Vogels dar. In Europa gibt es sie erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts, in China schon wesentlich früher. Das bekannteste Beispiel ist die Qing-Ming-Rolle aus dem 11. Jahrhundert, mit einer Länge von 5,28 Metern, auf der Kaifeng, die damalige Hauptstadt der Nördlichen Song-Dynastie dargestellt wurde. Auffallend ist, dass europäische Vogelschaupläne auf die Darstellung von Mensch und Tier verzichteten, es sei denn es handelte sich um Belagerungs- oder Kampfszenen. Auch wurden nur vollkommene Städte dargestellt, ohne in Bau befindliche Gebäude oder Ruinen. Die chinesischen Pläne bildeten stattdessen lebendiges städtisches Leben ab, mit detaillierten Zeichnungen von Personengruppen, Tieren, Arbeitsabläufen oder Festlichkeiten.
Dr. Kaster gelang es, mehrere Vogelschaupläne von Qingdao in deutschen Archiven, Museen oder bei Privatpersonen aufzuspüren und sie entsprechend auszuwerten. Sie bieten einen ungewöhnlichen Blick auf die Entwicklung der Stadt. Chinesische Maler haben sie nach europäischem Vorbild angefertigt, also ohne lebendige Straßenszenen. Auftraggeber waren deutsche Marineangehörige, die diese Pläne als Erinnerung mit in ihre Heimat nahmen.
Kürzlich konnte ich mit Dr. Kaster ein Gespräch über seine Recherchen zu Qingdao führen.
Im Folgenden einige Auszüge aus unserem Gespräch:
Petra: Wie konnte es gelingen, innerhalb so kurzer Zeit eine ganze Stadt aufzubauen?
Dr. Gert Kaster: Die Deutschen hatten ein Gebiet erobert, das nur mit kleinen Dörfern besetzt war und keine Infrastruktur besaß. Es musste also schnell ein Bebauungsplan erstellt werden, der die Grundlage schuf für eine Parzellierung von Grundstücken, die dann an Interessenten verkauft werden konnten. Da es aber zu jener Zeit in Qingdao keine Fachleute gab, die das hätten machen können, übernahmen Laien diese Arbeit. Mit dem Ergebnis, dass der Plan voller Fehler war, denn ihm lag keine genaue Geländeaufnahme zugrunde.
Erst ein Jahr später konnte ein zweiter Bebauungsplan vorgelegt werden, nach dem die Stadt dann gebaut wurde. Inzwischen hatten die entsprechenden Fachleute Qingdao erreicht und alle notwendigen Vermessungen vorgenommen.
Vorbild für die Anlage von Qingdao war die Stadt Wilhelmshaven, nach Kiel die zweite deutsche Marinestadt. Auch sie war Ende des 19. Jahrhunderts auf einer unbebauten Fläche entwickelt worden. Das gesamte Straßengerüst, aus dem die Gründung Wilhelmshavens besteht, ist in Qingdao übernommen worden.
Petra: Nachdem ein zweiter Plan zustande kam, ging dann also alles ganz schnell?
Dr. Kaster: Ja. Auf der Grundlage des zweiten Bebauungsplans wurden Grundstücke parzelliert und verkauft, allerdings mit der Auflage, sie zügig zu bebauen. Wenn dies nicht geschah, mussten hohe Abgaben gezahlt oder die Grundstücke zurückgegeben werden. Dies führte nicht nur zu einer schnellen Bebauung, sondern verhinderte auch Grundstücksspekulationen wie es sie in Hongkong und Shanghai gegeben hatte. Die negativen Auswirkungen der dortigen Grundstückspekulationen hatten zu Überbevölkerung und anschließenden Seuchenausbrüchen geführt.
Petra: Oft ist die Rede davon, dass Qingdao eine Art Musterkolonie werden sollte.
Dr. Kaster: Man muss Admiral Alfred von Tirpitz zugestehen, dass er relativ weitsichtig geplant hat. Er wollte nicht nur eine Militärstadt oder einen Marinestützpunkt schaffen, sondern eine Stadt, in der auch ein normales Leben möglich war mit Handel und Fremdenverkehr. Die Kontrolle über Qingdao unterstand denn auch der Marine und nicht dem Kolonialamt. Tirpitz hielt die Leute vom Kolonialamt für unfähig, ein solches Projekt erfolgreich zu verwirklichen.
Petra: Wie man mir in Qingdao erzählte, funktioniert das von den Deutschen angelegte Abwassersystem bis heute erstaunlich gut.
Dr. Kaster: Der Sommer 1898 war besonders regenreich. Da die Deutschen über keine langfristigen Wetteraufzeichnungen verfügten, dachten sie, dass es jeden Sommer in Qingdao so viel regnen würde. Also planten sie ein Entwässerungssystem, das riesige Regenmengen aufnehmen konnte. Das ist der Grund, weshalb in Qingdaos Altstadt bis heute ein Entwässerungssystem besteht, das die mehrfache Regenmenge dessen was vom Himmel herunterkommt aufnimmt. Neben einem effektiven Entwässerungssystem haben die Deutschen auch für eine vernünftige Frischwasserversorgung gesorgt.
Petra: Ich habe von einem deutsch-chinesischen Paar gelesen, das damals ein Grundstück kaufte, es mit einem Haus bebauen ließ, aber nicht darin wohnen durfte. Es galt das Gebot der Rassentrennung.
Dr. Kaster: Anfangs war es in der Tat so, dass Chinesen nur in den chinesischen Stadtvierteln wohnen durften und Europäer in den europäischen. Eine Ausnahme bildete das chinesische Dienstpersonal, das bei ihren europäischen Herrschaften wohnen konnte. Doch wurde die Ansiedlungspolitik bald liberalisiert. Vor allem nach dem Sturz der Qing-Dynastie 1911 strömten viele wohlhabende Chinesen nach Qingdao, um Besitztum zu erwerben und sich dort niederzulassen.
P.: Wie ist es heute um das deutsche Erbe bestellt?
K.: Während meiner Aufenthalte in Qingdao habe ich etliche Häuser gesehen, die bereits instandgesetzt wurden. Bei anderen Gebäuden war die Restaurierung noch im vollen Gange, allerdings manchmal mit Methoden, die wir so in Deutschland nicht anwenden würden. Aber immerhin legt man Wert darauf, die Häuser möglichst zu erhalten. Auch ersetzt man manch verloren gegangene dekorative Elemente. In der Kulturrevolution ist viel von dem deutschen Erbe kaputt gegangen, aber wahrscheinlich auch schon vorher. Wir dürfen nicht vergessen, dass nach den Deutschen die Japaner kamen, die nun ihrerseits einiges gebaut haben. Man kann die japanischen Bauten noch sehr gut identifizieren. Ab 1922 begann dann die chinesische Zeit. Qingdao gehörte endlich wieder den Chinesen. Interessanterweise entwickelte sich daraufhin eine starke chinesisch-deutsche Zusammenarbeit. Ein Beispiel dafür ist die St. Michaels-Kathedrale mit ihren zwei Türmen, die nicht, wie viele annehmen, in der deutschen Zeit gebaut wurde, sondern erst nach 1932, also nachdem die Stadt schon zehn Jahre lang rein chinesisch verwaltet wurde. Offensichtlich waren die Qingdaoer daran interessiert, die deutsche Architekturtradition weiterhin zu pflegen. So etwa in dem Stadterweiterungsgebiet Badaguan, das häufig als deutsches Viertel bezeichnet wird. Es wurde erst nach 1922 geschaffen, allerdings nach deutschen Gestaltungsregeln. Die Architekten stammten aus unterschiedlichen Ländern, unter anderem aus Russland. Jedoch hatten sie sich weiterhin an deutschen Vorbildern orientiert.
Petra: Worin besteht der Wert der Vogelschaupläne?
Dr. Kaster: Die Vogelschaupläne sind allein schon durch die Genauigkeit, mit der Gebäude, Fahnen und Schiffe dargestellt wurden, eine Quelle der Information. Ich kann auf fast allen Plänen die Marineschiffe identifizieren. Sie unterscheiden sich in ihren Aufbauten. Da ich aus anderen Zusammenstellungen weiß, wann welche Marineschiffe in Qingdao stationiert waren, kann ich Rückschlüsse auf das Entstehungsdatum eines Vogelschauplanes ziehen.
Bei diesem Buch handelt es sich um eine Zusammenarbeit von Dr. Gert Kaster und dem Staatsarchiv Qingdao. Es ist deshalb zweisprachig, Chinesisch/Deutsch, erschienen. Der Öffentlichkeit von Qingdao wurde es am Jahrestag der deutschen Besetzung vorgestellt. Dr. Kaster hielt dieses Datum zur Vorstellung seines Buches zunächst für ungeeignet. Doch die Vertreter des Staatsarchivs waren da ganz anderer Meinung. Die deutsche Zeit wäre prägend gewesen für ihre Stadt und gehöre untrennbar zu ihrer Geschichte. Und aus der Vogelschau einen Blick auf Qingdao zu werfen, darauf war schon lange niemand mehr gekommen. Deshalb wurde das Buch in Qingdao mit entsprechend großem Interesse aufgenommen.
Gert Kaster, Staatsarchiv Qingdao:
Die Vogelschaupläne von Tsingtau,
Großformat, 240 Seiten,
Ludwig-Verlag, € 49,90
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Nicht unerwähnt lassen sollte man, dass die erste Bierbrauerei in China 1903 von den Deutschen in Qingdao errichtet wurde und noch heute nach deutschem Reinheitsgebot Bier braut, was international in 50 Länder unter dem Namen Tsingtao verkauft wird.